In meinem jüngsten Roman „Frösche“ spielt zum Beispiel die Schwester meines Vaters eine Rolle. Aufgrund der Nobelpreisverleihung wurde sie von zahlreichen Journalisten mit Interviewanfragen bestürmt. Anfangs beantwortete sie noch geduldig alle Fragen, doch dann wurde es ihr zuviel und sie floh in eine Provinzstadt, um sich bei ihrem Sohn zu verstecken. Sie diente mir tatsächlich als Vorbild für die Figur in „Frösche“, aber es besteht ein Riesenunterschied zwischen der Tante in meinem Roman und meiner wirklichen Tante. Die Tante im Roman ist selbstherrlich und tyrannisch und erinnert zuweilen an eine rechte Schurkin, während meine echte Tante eine liebevolle und gutherzige Dame ist, eine typische gute Ehefrau und Mutter. Meine Tante verbringt ihren Ruhestand glücklich und zufrieden, während die Tante im Roman wegen ihrer Verbitterung unter Schlaflosigkeit leidet und mit einer schwarzen Decke um die Schultern wie ein Geist nachts schlafwandelt. Ich danke meiner Tante dafür, daβ sie sich nicht über die Art und Weise, wie ich sie in meinem Roman darstelle, geärgert hat. Ich bewundere ihre Weisheit, dank derer sie das Verhältnis zwischen der fiktiven Romanfigur und der echten Person realistisch einzuschätzen weiß.
Nach dem Tod meiner Mutter kannte meine Trauer keine Grenzen. Ich beschloβ, ihrem Andenken ein Werk zu widmen. So entstand der Roman „Große Brüste, breite Hüften“. Weil ich ein klares Konzept im Kopf hatte und vor Gefühlen überschäumte, schrieb ich das erste Manuskript dieses 500.000 Schriftzeichen umfassenden Romans in nur 83 Tagen nieder.
In „Große Brüste, breite Hüften“ benutzte ich zwar skrupellos Elemente, die mit der persönlichen Beziehung zu meiner Mutter zu tun hatten, aber das, was die Mutter in diesem Roman durchleben muβ, ist frei erfunden, besser gesagt: es setzt sich aus den Biographien zahlreicher anderer Mütter Gaomis zusammen. In der Widmung des Romans steht: „Der Seele meiner Mutter im Himmel gewidmet“ – doch in Wahrheit habe ich dieses Buch dem Andenken meiner Mutter und ihrem irdischen Leben gewidmet. Meine vielleicht größenwahnsinnig anmutende Ambition ist es, den kleinen Ort Gaomi als chinesischen Mikrokosmos zu einem Ort der Weltliteratur zu machen.
Jeder Autor hat seinen individuellen Schaffensprozeβ, jedes meiner Bücher ist anders konzipiert und von anderen Dingen inspiriert. Es gibt Erzählungen, die ihren Ursprung in einer Traumwelt haben, wie „Durchsichtiger roter Rettich“, andere haben ihren Ausgangspunkt bei Ereignissen, die mitten aus dem Leben gegriffen sind, wie „Die Knoblauchrevolte“. Doch ganz gleich, ob ihr Ursprung in einem Traum oder in der Realität liegt, am Ende muβ die Geschichte sich mit den persönlichen Erfahrungen eines Individuums verbinden, erst dadurch bekommt sie ihren unverwechselbaren Charakter; aus unzähligen lebendigen Details formt sich dann ein literarisches Werk voller typischer Charaktere, von reicher und bildhafter Sprache, Schöpfergeist und Authentizität. In der „Knoblauchrevolte“ lasse ich, das möchte ich hier besonders erwähnen, einen wirklichen Geschichtenerzähler auftreten, der im Roman eine ausgesprochen wichtige Rolle spielt. Es tut mir im Nachhinein sehr leid, daβ ich im Roman den wahren Namen dieses Geschichtenerzählers verwendet habe, denn natürlich sind seine Handlungen innerhalb des Romans Produkte meiner Phantasie. Solche Auftritte gibt es in meinen Werken zahlreiche. Wenn ich zu schreiben beginne, benutze ich die wirklichen Namen dieser Personen und erhoffe mir dadurch, ein Gefühl von besonderer Intimität mit ihnen zu schaffen. Habe ich den Roman dann abgeschlossen, scheint es mir oft unmöglich, ihre Namen abzuändern. Manche Leute, deren Namen in meinen Werken auftauchen, haben sich daher schon bei meinem Vater beschwert, der sich an meiner Stelle dafür entschuldigt hat, sie aber gleichzeitig beschwichtigte und riet, das nicht so ernst zu nehmen. Mein Vater sagt dann gerne: „In ‚Das rote Kornfeld’ schreibt er auch, ‚mein Vater, dieser Bandit’. Wenn ich mir da nichts draus mache, dann habt ihr wohl erst recht keinen Grund dazu.“
Bei Romanen wie der „Knoblauchrevolte“, die sich der gesellschaftlichen Wirklichkeit widmen, ist das größte Problem für mich nicht, ob ich es wagen kann, die dunklen Seiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit an den Pranger zu stellen, sondern ob diese brennende Leidenschaft und Wut dazu führen können, daβ die Politik die Literatur unterdrückt und damit erst recht den Inhalt des Werks bestätigt und die gesellschaftlichen Mißverhältnisse bloßstellt. Ein Schriftsteller ist Teil der Gesellschaft; selbstverständlich hat er seinen eigenen Standpunkt und seine eigene Meinung, doch ein Erzähler muβ beim Schreiben dem Standpunkt der Allgemeinheit einnehmen und läβt damit alle Menschen an seinem Werk mitschreiben. Einzig auf diese Weise kann sich Literatur einem Thema widmen, aber gleichzeitig darüber hinausgehen, kann politisch sein, dabei aber über die Politik hinausgehen.
Es liegt zweifellos an meiner eigenen bitteren Lebenserfahrung, daβ ich ein tiefes Verständnis für die menschliche Natur entwickelt habe. Ich weiß, was wahrer Mut bedeutet und habe begriffen, was wahrer Kummer ist. Ich weiß, daβ jedem Menschen etwas Diffuses innewohnt, etwas, das sich nicht exakt in die Kategorien von Richtig und Falsch, Gut und Böse einordnen läβt. Das ist das weite Terrain, auf dem ein Schriftsteller seinem Talent freien Lauf lassen kann. Solange man in einem Werk diese diffuse Zone, die so voller Widersprüche ist, genau und lebendig zu beschreiben versteht, dann erst geht ein Roman über das Politische hinaus und besitzt eine verfeinerte literarische Qualität.
Mein endloses Gerede über das eigene Werk geht Ihnen hoffentlich nicht auf die Nerven. Mein Leben und mein Schaffen sind einfach sehr eng miteinander verknüpft. Ich kann über nichts anderes reden als über meine Werke und kann Sie daher nur um Verständnis bitten.
In meinen frühen Werken war ich ein typischer moderner Geschichtenerzähler, einer, der hinter dem Text im Verborgenen die Fäden zieht, doch angefangen bei dem Roman „Die Sandelholzstrafe“ habe ich mich von der Hinterbühne auf die Vorderbühne gewagt. Liest man meine frühen Werke als Selbstgespräche, die keinen Leser im Sinn haben, dann ist das seit diesem Roman anders. Seither fühle ich mich wie jemand, der auf einem Platz vor einem großen Publikum steht und anschaulich und lebendig Geschichten erzählt. Das entspricht der Tradition der Romanliteratur der ganzen Welt, aber ganz besonders der chinesischen.
Auch ich habe einmal der westlichen Gegenwartsliteratur nachgeeifert, und früher mit unterschiedlichen Stilmitteln und Formen experimentiert, doch schließlich habe ich mich auf die Tradition besonnen. Natürlich bedeutet dieser Rückzug auf die Tradition keinen endgültigen, absoluten Rückzug. „Die Sandelholzstrafe“ und die darauf folgenden Romane zum Beispiel führen das Erbe der traditionellen chinesischen Erzählliteratur fort, wobei sie sich gleichzeitig bei unterschiedlichen Erzähltechniken der westlichen Literatur bedienen. Spricht man von literarischer Kreativität, meint man im Grunde immer ein Produkt dieser Mischung. Man mischt nicht nur die Erzählkunst der chinesischen Literatur mit der nichtchinesischen, sondern auch die Form des Romans mit anderen Kunstformen, wie zum Beispiel in der „Sandelholzstrafe“, wo ich mich der volkstümlichen Theatertradition bediene, oder auch in anderen frühen Erzählungen, deren Stil sich aus der Malerei, der Musik und selbst der Akrobatik speiste.
Zuletzt möchte ich noch etwas zu meinem Roman „Der Überdruβ“ sagen. Der chinesische Titel des Romans, der wörtlich „der Wiedergeburt müde“ lautet, stammt aus den klassischen Schriften des Buddhismus, und soweit ich weiß, stellte die Übersetzung dieses Titels für meine Übersetzer aus verschiedenen Ländern ein großes Problem dar. Ich habe mich nie sehr intensiv mit dem Buddhismus auseinandergesetzt, und mein Wissen über diese Religion ist daher sehr oberflächlich. Ich habe diesen Titel allein deshalb gewählt, weil sich meiner Meinung nach im buddhistischen Denken ein wahres Bewuβtsein vom Universum findet und viele Kämpfe des menschlichen Lebens in den Augen des Buddhismus unbedeutend sind. Diese auf ihren kleinen Horizont beschränkte menschliche Welt erscheint so betrachtet als armselig. Ich wollte mit diesem Buch gewiβ kein Evangelium schreiben; es ging mir nach wie vor um das menschliche Schicksal und die menschlichen Befindlichkeiten, seine Grenzen und seine Toleranz, seine Suche nach Glück, seine Ausdauer und die Opfer, die man für das, woran man glaubt, zu geben bereit ist. Der mit seinem eigenen Körper den Trends der Zeit widerstehende Lan Lian ist in meinen Augen ein wahrer Held. Das Vorbild für diese Figur ist ein Bauer aus unserem Dorf, dem ich in meiner Jugend häufig dabei zusah, wie er einen quietschenden Holzkarren an unserem Hof vorbeischob. Der Karren wurde von einem lahmen Esel gezogen, den seine Frau mit ihren abgebundenen Stumpenfüßen führte. Diese seltsame Arbeitsgruppe wirkte in der damaligen Kollektivgesellschaft ziemlich bizarr und altmodisch. Für uns Kinder waren diese Leute alberne Clowns, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, und wir warfen sogar voller Empörung auf der Straße Steine nach ihnen. Als ich viele Jahre später zum Pinsel griff, um meine Geschichte aufzuschreiben, tauchten dieser Mensch und diese Bilder wieder vor meinem inneren Auge auf. Mir war schon immer klar, daβ ich eines Tages ein Buch über ihn schreiben würde und der Menschheit seine Geschichte erzählen wollte, doch erst im Jahr 2005, als ich irgendwo in diesem Universum saß und auf eine Wandmalerei mit dem buddhistischen Rad des Lebens starrte, wurde mir klar, wie ich diese Geschichte zu erzählen hatte.
Es gab im Zuge meiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis einige Diskussionen. Anfangs hielt ich mich selbst für den Grund dieser Debatten, bis mir allmählich klar wurde, daβ der Gegenstand der Debatte jemand war, der mit mir so gut wie nichts zu tun hatte. Ich fühle mich wie ein Theaterbesucher, der dem Treiben auf der Bühne zusieht. Ich sehe, wie ein Preisträger mit Blumen überhäuft, aber auch mit Steinen beworfen und mit Dreckwasser überschüttet wird. Ich habe Angst, er könne zusammenbrechen, aber er steht lächelnd aus dem Haufen von Blumen und Steinen auf, wischt sich das Schmutzwasser ab, steht gelassen da und sagt zum Publikum:
Für einen Schriftsteller ist der beste Weg sich zu äußern das Schreiben. Alles, was ich zu sagen habe, steht in meinen Werken. Worte sind Schall und Rauch; was schwarz auf weiß geschrieben steht, läβt sich dagegen niemals ausradieren. Ich hoffe, daβ Sie meine Bücher mit Geduld und Nachsicht lesen, auch wenn ich sie natürlich nicht dazu zwingen kann. Selbst wenn Sie meine Bücher gelesen haben, erwarte ich nicht, daβ sie mich mit anderen Augen betrachten. Kein Schriftsteller der Welt wird von allen Lesern gemocht. Das gilt in der heutigen Zeit noch mehr als früher.
Eigentlich wollte ich mich nicht zu dieser Debatte äußern, doch heute muβ ich hier sprechen, und deshalb will ich ein paar Sätze dazu sagen.
Ich bin ein Geschichtenerzähler, also erzähle ich Ihnen eine Geschichte.
In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich in die dritte Klasse der Grundschule ging, muβten wir uns einmal eine Ausstellung über das Leid unseres Volkes ansehen. Um den Erwartungen des Lehrers zu entsprechen, brachen wir alle in ein großes Geheule aus. Damit der Lehrer sich von meinem Entsetzen überzeugen konnte, wischte ich mir die Tränen nicht aus dem Gesicht. Ich sah, wie einige Mitschüler sich heimlich Speichel über das Gesicht schmierten, damit es aussah, als ob sie weinten. Ein einziger Schüler trug inmitten all der echten und falschen Tränen ein tränenloses Gesicht zur Schau, er gab keinen Ton von sich und barg auch das Gesicht nicht in den Händen. Er starrte uns mit großen Augen erstaunt, vielleicht auch ungläubig, an. Hinterher schwärzte ich ihn bei unserem Lehrer an und der Schüler bekam eine Disziplinarstrafe. Als ich viele Jahre später jenem Lehrer gestand, daβ ich mein Verhalten von damals bereue, erzählte er mir, daβ ich an jenem Tag nicht der einzige gewesen sei, der den Mitschüler angeschwärzt hatte. Dieser Mitschüler ist bereits einige Jahre tot, aber jedes Mal, wenn ich mich an ihn erinnere, bin ich tief beschämt. Dieser Vorfall hat mir eines begreiflich gemacht: Wenn alle weinen, dann sollte es einen geben, der nicht weint. Und wenn das Geheule zudem nur zur Schau gestellt ist, dann ist es umso wichtiger, daβ einer sich dem Weinen verweigert.
Und ich möchte noch eine Geschichte erzählen: Vor dreißig Jahren arbeitete ich noch beim Militär. Eines Abends saß ich lesend in meinem Büro, als ein älterer Kommandeur zur Tür hereinkam, auf den Platz mir gegenüber starrte, und wie zu sich selbst sagte: Wie, keiner da? Ich stand auf und sagte mit lauter Stimme: „Bin ich etwa niemand?“ Der Kommandeur wurde rot und zog sich beschämt wieder zurück. Lange Zeit war ich stolz auf diesen Vorfall und wähnte mich einen mutigen Soldaten, später jedoch machte ich mir deswegen eher Vorwürfe.
Bitte erlauben Sie mir, daβ ich Ihnen noch eine weitere Geschichte erzähle. Sie stammt von meinem Großvater. Es waren einmal acht Maurer, die vor einem Unwetter in einer Klosterruine Schutz suchten. Draußen grollte lautstark der Donner und ein Feuerball nach dem anderen schien von außen gegen das Klostertor anzurollen, die Luft schien erfüllt von furchtbarem Drachengebrüll. Die Männer waren starr vor Angst und kreidebleich. Einer von ihnen sagte: Einer von uns acht muβ etwas angestellt haben, das den Himmel erzürnt hat. Wer immer das war, soll gefälligst vor die Tür gehen und sich seine Strafe abholen, anstatt Unschuldige mit hineinzuziehen.“ Natürlich wollte keiner hinausgehen. Dann meinte ein anderer: „Da keiner von uns hinausgehen will, schlage ich vor, daβ wir alle unsere Strohhüte nach draußen werfen. Wessen Hut zum Tor hinausgeweht wird, der ist der Übeltäter und muβ hinausgehen und sich seiner Strafe stellen.“ So warfen also alle ihre Strohhüte in Richtung Tür. Sieben der Hüte wurden zurück in das Kloster geweht und nur einen trug der Wind nach draußen. Die anderen drängten ihren Kameraden hinauszugehen und seine Strafe zu empfangen. Als er sich weigerte, stießen ihn die Männer mit vereinten Kräften zur Tür hinaus. Ich nehme an, daβ Sie erraten können, wie die Geschichte ausgeht – in dem Moment, als der Mann zur Tür hinausflog, stürzte die Klosterruine in sich zusammen.
Ich bin ein Geschichtenerzähler.
Weil ich ein Geschichtenerzähler bin, wird mir der Nobelpreis für Literatur verliehen.
Viele wunderbare Geschichten haben sich nach der Verleihung dieses Preises zugetragen; Geschichten, die mich in meinem Glauben, daβ Wahrheit und Gerechtigkeit existieren, bestärkt haben.
Ich werde auch weiterhin meine Geschichten erzählen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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