Viele Jahre später, als ich ein Schriftsteller geworden, verarbeitete ich die aus der Einsamkeit entstandenen Phantasien jener Zeit in meinen Erzählungen. Nicht wenige preisen heute den Reichtum meiner Phantasie, und einige Literaturliebhaber möchten von mir wissen, woraus sich diese Phantasie nährt. Auf diese Frage kann ich nur mit einem bitteren Lächeln antworten.
Es verhält sich damit, wie es schon unser Urahn und Philosoph Laozi formulierte: „Das Unglück ist es, worauf das Glück beruht; das Glück ist es, worauf das Unglück lauert.“ Ich muβte in meiner Kindheit frühzeitig die Schule beenden, ich litt Hunger, war einsam und hatte keine Bücher zu lesen, aber gerade deshalb lernte ich, ähnlich wie der Schriftsteller Shen Congwen eine Generation zuvor, im großen Buch des Lebens zu lesen. Das Lauschen auf die Geschichten des Erzählers auf dem Marktplatz, von dem ich eben sprach, war nur eine Seite dieses Buches.
Nachdem ich die Schule verlassen hatte, muβte sich meine Karriere fortan durch das „Lesen mit den Ohren“ entwickeln. Vor zweihundert Jahren gebar unser Landstrich einst ein großartiges Erzähltalent, den Dichter Pu Songling; viele unserer Dorfbewohner und auch ich selbst gehören zu seinen Nachkommen. Ob bei der gemeinsamen Feldarbeit, in den Rinder- und Pferdeställen der Zuchtbrigade, auf dem warmen Ofenbett meiner Großeltern und selbst auf dem schaukelnden Ochsenkarren hörte ich immerfort Geistergeschichten, historische Überlieferungen und Anekdoten. All diese Geschichten waren mit unserer unmittelbaren Umgebung und Natur, mit der Geschichte unserer Familie, aufs engste verknüpft, und gehörten daher für mich dem wirklichen Leben an.
Ich hätte mir nicht träumen lassen, daβ diese Geschichten eines Tages den Stoff für meine eigenen Romane liefern könnten. Damals war ich nur ein kleiner Junge, der nach Geschichten lechzte und aufmerksam den Erzählungen anderer lauschte. Ich glaubte entschieden an Geister und daran, daβ alle Dinge eine Seele haben. Jedem mächtigen Baum erwies ich meinen Respekt. Wenn ich einen Vogel sah, dachte ich, er könne sich jederzeit in einen Menschen verwandeln; und traf ich auf einen Fremden nahm ich wiederum an, er sei ein Tier in Menschengestalt. Allabendlich, wenn ich vom Registrierzimmer der Produktionsbrigade nach Hause zurückkehrte, starb ich unterwegs tausend Tode vor Furcht, und ich rannte und sang aus voller Kehle, um mir Mut zu machen. Ich war damals gerade mitten im Stimmbruch, meine Stimme klang heiser und unschön und mein Gesang war für meine Mitmenschen die reinste Folter.
Ich verbrachte 21 Jahre meines Lebens in meinem Heimatdorf. Die weiteste Reise, die ich in dieser Zeit unternahm, führte mit dem Zug nach Qingdao, wo ich mich beinahe zwischen den Holzblöcken einer großen Holzfabrik verirrte. Als meine Mutter mich fragte, was ich mir in Qingdao angesehen habe, antwortete ich: Gar nichts, da gab es nur Holzblöcke. Dennoch war es diese Reise nach Qingdao, die in mir den Wunsch weckte, meine Heimat zu verlassen und mir die Welt anzusehen.
Im Februar 1976 ließ ich mich zum Wehrdienst einziehen. Meine Mutter verkaufte einen Teil ihres Hochzeitsschmucks, damit ich mir die vier Bände der „Kurzen Geschichte Chinas“ leisten konnte. Ich ließ Gaomi, diesen Ort, mit dem mich eine ewige Haβliebe verbindet, hinter mir und es begann die wichtigste Zeit meines Lebens. Ich muβ sagen, daβ ich ohne die damals einsetzende gesellschaftliche Entwicklung und den Fortschritt Chinas dank der Reform- und Öffnungspolitik niemals zu dem Schriftsteller geworden wäre, der ich bin.
Inmitten des prosaischen Soldatenlebens begrüßte ich die Befreiung des Denkens und die neue Welle von Literatur der 1980er Jahre. Von dem Kind, das mit den Ohren Geschichten lauschte und sie mit dem Mund weitererzählte, wurde ich schließlich zu einem, der versuchte, seine Geschichten mit dem Stift zu erzählen. Das war anfangs alles andere als einfach. Ich hatte damals noch nicht begriffen, daβ die zwanzig Jahre Landleben das Erz für meine Literatur waren; ich dachte, Literatur bedeute, gute Geschichten von guten Menschen zu schreiben, Heldengeschichten. Und so veröffentlichte ich zwar ein paar Erzählungen, die jedoch von geringem literarischem Wert waren.
Im Herbst 1984 bestand ich die Aufnahmeprüfung für die Literaturabteilung der Kunstschule der Volksbefreiungsarmee. Unter der liebevollen Anleitung meines Lehrers, des Schriftstellers Xu Huai, schrieb ich „Herbstwasser“, „Trockener Fluβ“, „Durchsichtiger roter Rettich“, „Das rote Kornfeld“ und andere Novellen. „Herbstwasser“ war die erste Erzählung, in der der Ort Gaomi in Dongbei auftauchte. So wie der Bauer, der, wo er sich auch befindet, seine heimatliche Scholle hat, habe ich mir als Vagabund der Literatur seither eine zuverlässige literarische Heimat geschaffen. Ich muβ gestehen, daβ mich William Faulkner und Gabriel Garcia Marquez wesentlich zu der Erschaffung dieses literarischen Heimatorts Gaomi in Dongbei gebracht haben. Ich habe ihre Werk nicht vollständig gelesen, aber ihr schöpferischer, heroischer Geist war für mich eine wichtige Quelle der Inspiration. Durch sie habe ich begriffen, daβ ein Schriftsteller seinen eigenen Ort braucht, der nur ihm gehört. Im täglichen Leben sollte ein Mensch demütig und bescheiden auftreten. Bei der Schaffung von Literatur aber darf er durchaus arrogant und autoritär sein. Zwei Jahre lang versuchte ich, in die Fußstapfen dieser beiden großen Lehrmeister zu treten, bis ich mir klar wurde, daβ es an der Zeit war, mich endlich von ihnen zu distanzieren. Ich schrieb damals in einem Artikel: Diese beiden Schriftsteller sind zwei glühendheiße Öfen, ich aber bin ein Eiswürfel, der zum Schmelzen gebracht wird, wenn er ihnen zu nahe kommt. Ein Schriftsteller kann meiner Meinung nach nur deshalb von einem anderen beeinfluβt werden, weil sie sich tief in ihrem Inneren sehr ähnlich sind. Das nennt man dann Seelenverwandtschaft. Es genügt mir, ein paar Seiten von ihren Romanen zu lesen, um zu verstehen, worum es ihnen geht und wie sie ihr Thema angehen, und schon begreife ich, was ich selbst eigentlich möchte und wie ich vorgehen muβ.
Was ich möchte, ist im Grunde sehr einfach, nämlich mit meinem eigenen Stil auf meine Weise meine eigenen Geschichten erzählen. Ich bediene mich dabei der Art des Geschichtenerzählers auf dem Marktplatz, mit der ich so vertraut bin. Es ist die Art meiner Großeltern, die Art der Alten vom Dorf, Geschichten zu erzählen. Offen gesagt, mache ich mir beim Erzählen keine Gedanken darüber, wer meine Zuhörer sind, vielleicht sind es Menschen wie meine Mutter, vielleicht bin es ich selbst; meine Geschichten entstammen schließlich meiner ganz persönlichen Erfahrung. Zum Beispiel der Junge, der in „Trockener Fluβ“ miβhandelt wird oder das Kind, das in der Erzählung „Durchsichtiger roter Rettich“ von Anfang bis Ende kein einziges Wort sagt. Ich bin früher tatsächlich von meinem Vater geschlagen worden, wenn ich etwas falsch gemacht hatte, und ich habe tatsächlich dereinst beim Brückenbau für den Schmied den Blasebalg gezogen. Ganz gleich wie außergewöhnlich eine persönliche Erfahrung auch sein mag, wird sie natürlich in einem Roman kaum ohne gewisse Veränderungen verarbeitet werden. Eine Erzählung muβ erfunden sein, sie muβ der Phantasie entspringen. Viele meiner Freunde halten „Durchsichtiger roter Rettich“ für meine beste Geschichte. Dem kann ich weder widersprechen noch zustimmen; ich bin jedoch der Ansicht, daβ „Durchsichtiger roter Rettich“ sicherlich die symbolträchtigste unter meinen Erzählungen ist, eine Geschichte von großer Tiefe. In der Figur dieses von Kopf bis Fuß rußgeschwärzten Jungen, der sowohl eine übermenschliche Leidensfähigkeit als auch eine übermenschliche Sensibilität an den Tag legt, ist die Seele all meiner Werke angelegt. Ich habe in meinen späteren Romanen eine Menge Figuren erschaffen, doch keine davon kommt so nah an meine eigene Seele heran wie dieser Junge. Man könnte auch sagen, daβ es unter den zahlreichen Figuren, die ein Schriftsteller erschafft, immer eine Leitfigur gibt. Dieser Junge sagt kein Wort und vermag dennoch, alle Arten von Leuten zu beeinflussen. Er bringt sie dazu, mit ganzem Herzen auf der Bühne von Gaomi in Dongbei aufzutreten.
Die eigene Geschichte hat ihre Grenzen; dort, wo die eigene Geschichte aufhört, beginnt die Geschichte der anderen. Und dann kommen mir die Geschichten meiner Verwandten in den Sinn, die der Dorfbewohner, und die überlieferten Geschichten unserer Vorfahren, die die alten Leute erzählten, und ich fühle mich wie ein Soldat beim Sammlungsappell. Alle sehen mich erwartungsvoll an und warten darauf, daβ ich ihre Geschichten aufschreibe. Mein Großvater, meine Großmutter, mein Vater, meine Mutter, mein älterer Bruder, meine ältere Schwester, Tanten, Onkel, Ehefrau und Tochter, sie alle sind schon einmal in meinen Werken vorgekommen, neben all den Bekannten aus dem Dorf Gaomi, die meine Geschichten bevölkern. Natürlich habe ich sie alle literarisch bearbeitet, als fiktive Romanfiguren gehen sie jeweils weit über ihre ursprüngliche Gestalt hinaus.
莫言瑞典学院演讲:《讲故事的人》德语版
2012-12-10 10:05
展开剩余